AN MORGEN DENKEN

Der clevere Berater sollte Trends eigentlich nur danach beurteilen, ob man daran verdienen kann. Trotzdem gibt es, wie ich glaube, Situationen, in denen jedermann angehalten ist, den Menschen sprechen zu lassen.

Tatsächlich sieht es auf den ersten Blick so aus, als wären wir seit Generationen nicht mit soviel Unsicherheit konfrontiert gewesen. Aber schon dieser Blick ist eine Frage der Perspektive. Jeder, der den Fall der Mauer erlebte und sich dabei „auf der anderen Seite“ befand – oder möglicherweise kürzlich als Flüchtling/ Geflüchteter nach Europa kam, ob aus Syrien, Afghanistan oder Afrika, hatte selbstverständlich mit weitaus elementareren Schwierigkeiten zu kämpfen als wir gegenwärtig und hoffentlich auch künftig.

Mit anderen Worten – nur ein kleiner Teil der Welt lebte in den vergangenen Jahrzehnten durchgängig in scheinbarer Harmonie und Wohlstand. So betrachtet ist es eben jetzt an uns, uns zu wehren. Wenn man allerdings davon ausgeht, dass der Kampf gegen SARS-CoV-2 über die Vermeidung von Sozialkontakten hinausgeht. Kämpfen wir überhaupt, oder akzeptieren wir nur einen neuen Status Quo?

Man konnte die vergangenen Wochen nämlich auch als Aufforderung verstehen, sich für Themen zu interessieren, die einst zu fern erschienen, um das eigene Leben jemals zu beeinflussen. Es galt, neue Terminologien zu verstehen, Hintergründe zu recherchieren und diese in einen Kontext zu stellen. Wer nicht schon in der Vergangenheit sein Informationsverhalten geändert hat, tat dies jetzt.

Eine weitere Veränderung, zumindest in meinem Leben: Freunde aus einem ganz anderen Grund zu schätzen – als willkommenes Korrektiv von Sorgen weit jenseits des täglichen Einerleis, aber nicht mehr auf der philosophischen Hintertreppe. Dabei wird schnell klar, wie sehr Sichtweisen davon abhängen, welchen Bezug jemand etwa zum Gesundheitssystem hat. Ob die Tochter als Ärztin in einem großen Krankenhaus arbeitet, oder der Sohn ein schwaches Herz hat, kann alles entscheiden und bedeuten. Auch ist nicht jeder gleich robust und wir existieren natürlich alle nur zwischen zwei Herzschlägen.

Wie sich herausstellt, sind wir als Gesellschaft vulnerabler, als wir glaubten. Unsere Leben verlaufen vergleichsweise ruhig, Bedrohungen, ob vermutet oder real, bereiten uns schnell echte Angst. Dieser Angst begegnen wir ansonsten im Austausch mit anderen, im kleinen Kreis und (als Beobachter) der großen Bühne. Wo dieser Austausch erstarrt, abgeschnitten wird oder man sich frühzeitig auf eine Deutung festlegt und nur diese kommuniziert, verengt sich auch unser Blick.

Solche Ereignisse sind somit auch eine Aufforderung an jeden einzelnen, einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, diesen zu teilen und nicht bloß abgepackte Statements zu konsumieren. Der Diskurs bewegt uns und die Dinge um uns. Für den Fall, dass unsere Welt morgen eine andere ist, wäre heute der Moment, über diese Welt nachzudenken. Mindestens drängt sich aber die Frage auf, wie wir in einer ungewiss fernen Zukunft mit SARS-CoV-3 und -4 umgehen möchten.

Dazu würde man etwa erwarten, dass ein breiterer Kreis von – auch internationalen – Experten einbezogen wird, um zu klären, wie bedrohlich das aktuelle Geschehen medizinisch tatsächlich ist und was daraus für etwaige künftige Pandemien folgt.

Ferner ein Nachdenken über Strukturen. Wir erinnern uns einige Wochen später noch vage an „flatten the curve“. Der Ausgangspunkt waren also fehlende Intensivbetten. Diese wiederum das Resultat einer seit langem verfolgten und natürlich von einer Mehrheit gestützten oder geduldeten Gesundheitspolitik, mit uns allen bewussten Begleiterscheinungen, lange vor „Corona“.

Was kosten 10-, 50-, 100-mal soviele Intensivbetten? Was kostet uns die Krise jetzt?

Geplante Reformen müssten an breite Bevölkerungskreise kommuniziert werden, ohne dabei Eckpunkte wie die Abrechnung ärztlicher Leistungen und die Finanzierung eines vielleicht sehr anders gearteten Systems zu vernachlässigen.

Die kommenden Monate werden zeigen, ob wir die Gelegenheit genutzt haben, uns an dieser „Front“ neu aufzustellen – oder dabei stehen geblieben sind, auf Impfstoffe (deren Wirkung, Nebenwirkungen und Akzeptanz wir nicht kennen) zu warten und zwischenzeitlich Gesichtsmasken zu empfehlen.

Ich schreibe dies an einem sonnigen Frühlingswochenende, nach einem langen (meine flotten Marathon-Zeiten sind vorbei, also langsamen) Lauf in einem nahen Park. Es war unmöglich, Spaziergänger zu passieren, die die aktuelle Situation nicht lebhaft debattierten. Diese Debatte gehört raus aus den Parks, in unseren Alltag, aus wirklich vielen Gründen.

Gleichzeitig verlangt sie von uns Neugierde, die Erneuerung einer selbstverständlichen Verpflichtung zum respektvollen Umgang, ebenso aber ein Verständnis dafür, was man anderswo „Bias“ nennt. Die Prägung unseres Denkens und Handelns durch Einstellungen und Motive, die uns selbst noch nicht einmal vollständig bewusst sein müssen.

Was ist der Daseinszweck der im Fokus stehenden Institutionen, welchen Werdegang haben deren Sprachrohre durchlaufen, welche Einschätzungen wurden in der Vergangenheit abgegeben?

Was die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 an sich betrifft, vertrete ich eine Minderheitsmeinung. Ausschlaggebend dafür waren, neben erwähnten, erdenden Gesprächen mit Freunden, insbesondere die Analysen des Epidemiologen und Co-Directors am Meta-research Innovation Center in Stanford, John Ioannidis, sowie anderer, unabhängiger Fachleute. Ein sehenswertes Interview mit Ioannidis von Ende März findet sich hier*. Dass sich an dessen Aktualität nichts geändert hat, ist frappierend. Man könnte folgern, dass wir uns noch immer nicht genug gesammelt haben, um die elementarsten Fragen zu stellen.

Welcher Meinung man unter dem Einfluss seines eigenen Bias und dem Druck der Ereignisse, der für uns alle unterschiedlich ausfällt, vorübergehend anhängt, ist natürlich nicht ausschlaggebend. Wünschen würde man sich, neben Lernbereitschaft, allerdings die Größe, Irrtümer einzugestehen. Wenn schon nicht aus Größe, dann aus Interesse am Erhalt der eigenen Glaubwürdigkeit.

Der Mitte April 2020 herrschende, angesichts obiger, harmloser Beobachtung jedoch nur scheinbare gesellschaftliche Konsens mag uns künftig stolz machen.

Oder aber wir können nicht mehr nachvollziehen, warum in dieser Zeit Entscheidungen von erheblicher wirtschaftlicher Tragweite fielen – nicht für das Kapital, sondern vor allem für die Menschen – ohne eine Reihe von Aussagen hinterfragt und Entwicklungen hinreichend durchleuchtet zu haben.

Weil wir nicht in Frieden über die Dinge gestritten haben. Das darf nie aufhören.

*nachdem das ursprüngliche Video von Youtube gelöscht wurde – vermutlich wg. mangelnder Übereinstimmung mit der offiziellen (damaligen) WHO-Position – führt der Link nun zu einem anderen Youtube-Kanal & ich bitte hiermit, sich nicht an den Kommentaren oder ggf. anderen Videos dort zu stoßen. Der Inhalt des hier im Fokus stehenden 62min Interviews mit Ioannidis bleibt für mich die absolut beste, kritische, aber auch ausgewogene Einführung in die gesamte Thematik, daher im Zweifel die Entscheidung für eine Quelle, für die ich ansonsten nicht bürgen kann.